Menschwerden ist eine Kunst

Menschwerden ist eine Kunst steht auf einer Sandsteinsäule am Eingang unserer Fachakademie. Oft gehe ich einfach vorüber. Und dann gibt es den Moment des Innehaltens. Ist Menschsein nicht selbstverständlich? Was bedeutet es, Mensch zu werden?

Ich arbeite mit jungen Menschen, die Erzieher/in werden wollen. Wenn sie an unsere Akademie kommen, haben sie zwei Jahre mit Kindern gearbeitet. Sie wissen, das ist ein zutiefst erfüllender aber auch anstrengender Beruf. Die Arbeit mit Kindern ist, wie jedes menschliche Miteinander, geprägt von wunderbaren Begegnungen und „heftigen Geduldsproben“, weil auch schon die Kleinsten lernen müssen, das Miteinander menschlich zu gestalten. Das heißt: Die Balance zwischen den eigenen Interessen und denen ihrer Mitmenschen gut auszutarieren. Das mit Kindern zu üben, ist eine hohe Kunst, die mich auch als Erwachsenen immer wieder neu fordert. Menschsein ist nicht nur bei Kindern immer auch ein Werden. Und es bedarf des mühevollen Engagements.

Dieses mühevolle Engagement beschreibt Ernst Bloch mit dem Satz: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst.“ Mit diesem „Werden“ verbindet sich für mich ein Optimismus, besser gesagt: Ich habe die Hoffnung, dass dieses Werden gelingen kann. Es steht für mich unter der Zusage Gottes. Diese lautet: „Du Mensch bist mein Ebenbild. Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter. Durch dich Mensch will ich mich ausdrücken. In Dir bin ich im Werden. Und weil ich Gott bin und nicht Mensch, habe ich so unendlich viele Weisen mich auszudrücken.“
Diese Vielfalt ist Geschenk und Herausforderung zugleich. Es ist für mich Geschenk, weil ich dadurch in mir etwas unzerstörbar Heiliges trage, das mich, wenn ich den Zugang dazu suche, für den allzu menschlichen Alltag freier macht: Ich muss meinen Selbstwert niemandem beweisen. Es ist aber auch eine Herausforderung, diese Vielfalt auszuhalten, das Fremde (auch in mir) immer wieder auch als notwendige Chance zu begreifen, um dem nahe zu kommen, der mir diesen göttlichen Funken geschenkt hat und selbst immer wieder der „ganz Andere“ ist.
Diese Fremdheit hat viele Gesichter. Es können der eigene Partner, die eigenen Kinder oder auch die täglichen Kollegen sein. Es können aber auch die vielen neuen Gesichter in unserer Stadt sein, die uns evtl. befremden oder auch ängstigen. In all dieser Fremdheit liegt die Heraus – Forderung der Menschwerdung. Eine Forderung sich nicht zu schnell in seinen Sicherheiten einzurichten.
Menschwerden ist eine Kunst, bei der es darauf ankommt, immer wieder dem Geheimnis des Lebens auf der Spur zu bleiben. Und wenn es uns gelingt, diesem Geheimnis nahe zu kommen, entdecken wir: Es findet sich immer wieder in der Menschlichkeit.

Dr. Peter Müller
Stellvertretender Fachakademiedirektor

Erschienen als Kreuzwort am 13. September 2015

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