Sehnsucht nach dem Licht

Um die Stimmung dieser Tage einzufangen, verwenden viele Redner*innen zurzeit oft das Sprachbild von der Fahrt durch einen Tunnel, in dem ein Schimmer von Licht das Ende der Finsterstrecke verheißt. Es ist der Ausdruck ihrer Hoffnung, dass das Dunkel wirklich bald vorüber ist. Gehen wir unter der Oberfläche dieses Bildes etwas in die Tiefe. Ein Tunnel ist zumeist ein begrenzter Streckenabschnitt, der durch einen Berg, unter der Erde oder dem Meer verläuft. Wer hat bei einer längeren Zugfahrt nicht schon die Erfahrung gemacht, dass bei der Einfahrt das Tageslicht oftmals abrupt verschwindet? Ohne künstliche Beleuchtung umfängt dich unversehens orientierungslose Nacht. Die Mitfahrer verschwinden. Für einen Moment bleibst du dir allein. Deine Habseligkeiten kannst du auf einmal nur mit zaghaftem Tasten begreifen, Lesen ist nicht mehr möglich. Ein weitergehender Blick, der dir Perspektiven verschafft oder dich über sichere Haltepunkte in Kenntnis setzt, fällt durch den Mangel an Licht völlig weg.

Die Parallele zu den Phänomenen, die die Viruspandemie und ihre Auswirkungen hervorrufen, ist greifbar. Am schmerzlichsten davon ist vielleicht die Entfremdung von unserem menschlichen Lebenselixier, der Sozialität. Allenthalben sind fehlende Ressourcen zu spüren, um echte Haltepunkte und handlungsleitende Perspektiven zu erhalten. Die Nacht der Krise ist gekennzeichnet von Orientierungslosigkeit und bei manchen von einem grundsätzlichen Vertrauensverlust. An vielen Stellen, an denen Menschen in den betreuenden, pflegenden, lehrenden und versorgenden Berufen in Verantwortung stehen, wird pure Überlastung manifest. Mittlerweile kommen auch die Treuesten an die Grenzen des überhaupt Leistbaren. Manche beschreiben ihre berufliche Situation als so ernst, wie sie sie in ihrer Laufbahn noch nie erlebt haben. Wie kommen wir aus der Finsternis des Tunnels in das neue Morgenlicht?

Einen hilfreichen Impuls habe ich in dem anrührenden Büchlein von Jörg Zink wieder entdeckt: „Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages.“ Mit dieser Sentenz macht er darauf aufmerksam, dass hinter der vordergründigen Wahrheit des Neubeginns zur Mitternacht größere, existenzielle Substanz steckt. Ein christlicher Osterhymnus gibt den zusätzlichen Hinweis: „Die Mitte der Not ist der Anfang des Lichts.“ Wenn Menschen durch die Vorsorgemaßnahmen sich nicht zuerst um sich selbst, sondern vorrangig um den Schutz der anderen kümmern, dann bedeutet das, einen Schimmer von Licht im Dunkel. Und wenn du genauer hinschaust, dann fahren in diesem gefühlten Alleinsein in der Finsternis doch viele mit, denen es im Moment ganz genau so geht wie dir. Sie sind zwar im Abstand, aber trotzdem da. Es bedeutet Licht am Horizont, wenn aus dem katastrophalen Erlebnis der sozialen Distanz die grundlegende Erkenntnis erwächst, wie förderlich die erfüllende Begegnung wirkt und wie sehr das Asoziale Leben zerstört. Dass Menschen weltweit fähig sind, in einer einzigartigen Kraftanstrengung, über gesellschaftliche und politische Grenzen hinweg Impfstoffe für die Bekämpfung bedrohlicher Krankheitserreger zu entwickeln – und das in atemberaubend kurzer Zeit und mit großem rationalen und technischen Vermögen -, das lässt die Hoffnung auf das Tunnelende zu einer Zuversicht wachsen. So schlimm und schrecklich es ist, was wir erleben, es ist nicht der Untergang. Am Ende des Tunnels ist zu erahnen, wie Gott einen neuen Tag macht.

Robert Flörchinger

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