Trotzdem Ja zum Leben sagen

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin, und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

(R.M.Rilke)

Dieses Gedicht von Rainer Maria Rilke passt zu diesen Tagen. Es scheint auch zu den beunruhigenden Nachrichten und zum Teil gravierenden Unsicherheiten zu passen, die uns derzeit als gesamte Gesellschaft umtreiben. Es soll nun nicht zum tausendsten Mal über die Coronakrise und hilfreiche oder nicht hilfreiche Maßnahmen sinniert werden. Wohl aber ist es lohnenswert, über das nachzudenken, was in der Welt aufbricht und plötzlich wie unter einem Brennglas vergrößert wahrzunehmen ist. Die Verletzlichkeiten von Menschen werden überdeutlich. Es tauchen Brüche an Stellen auf, die wir nicht vermutet hätten. Die Versuchung zum Schubladendenken ist riesengroß. Da spalten widerstreitende Meinungen Kolleg*innen und Familien, oder du findest dich hautnah in Debatten zwischen Fakenews und ernst zu nehmender Information.

Eins, meine ich, verbietet sich in allen Fällen: gleichgültig zu bleiben. Es gilt, auszuhalten, dass da etwas mit der Welt und mit uns nicht rund läuft. Es gilt, sich den Verletzlichkeiten, den Brüchigkeiten oder Unsicherheiten, ja dem konkreten Leid zu stellen. Ob nun Menschen an etwas Höheres, Göttliches glauben, oder Menschen, denen diese Dimension bestenfalls fragwürdig erscheint: Uns allen ist die Freiheit gegeben, den Blick immer wieder auf das zu richten, was dem Leben einen Sinn geben kann. Der Wiener Neurologe und Psychiater Viktor Frankl, der die Hölle mehrerer Konzentrationslager überstanden hat, und der alles Recht hätte, am Leben zu verzweifeln, ist ein herausragender Zeuge für diesen Mut, auf der Suche nach dem Sinn zu bleiben. Er zeigt, dass es immer wieder darum geht, sich den Begrenztheiten zu stellen, aber nicht dabei stehen zu bleiben, sondern den Sinn zu entdecken, der im Leben schon da ist. Die gute Botschaft dabei ist, dass wir niemals in der Enge steckenbleiben müssen, dass wir undefinierbare Ängste nicht über uns bestimmen lassen müssen. Aus der Opferrolle auszusteigen ist noch wichtiger als der Schutz vor einem Virus. Es kann nicht darum gehen in Jammerorgien zu verfallen, ein anderes Leben zu fordern, oder immer nur zu warten, bis alles Sinn macht. Es gilt weiter zu suchen, sich Mühe zu machen, die rechten Augenblicke zu finden, zum Leben in der Breite seiner Dimensionen Ja zu sagen. Ein heilsames Moment dieser Suchbewegung ist der Perspektivwechsel von mir weg. Es trägt zur seelischen Gesundheit bei, aus dem ‚Kreisen um mich selbst‘ heraus zu kommen und anderes, andere Menschen, andere Lebenssituationen in den Blick zu nehmen. Resignation dagegen wäre ein schlechter Ratgeber. Sie würde bedeuten, mit der Suche nach dem Sinn aufzuhören und beim Zweifel stehen zu bleiben. Da wir nun „Sinn“ nicht einfach selber machen können, ist es förderlich, offen zu bleiben, sehen zu lernen, sich mit Unabänderlichem in Würde zu versöhnen und voll Hoffnung über sich selbst hinauszuschreiten – vielleicht „… wachen, lesen, lange Briefe schreiben und in den Alleen unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“

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